6
Jan
2006

New Order

Gestern war's noch Sommer, heute isses Herbst, dachte ich, als ich auf dem Balkon meiner Freundin stand, 300 Meter über dem Bodensee, den Morgennebel inhalierte und von Heiligenberg hinuntersah ins Deggenhauser Tal. Scheiß, daß ich keine Kohle habe. Sonst würd ich mit ihr nach Naxos fahren. Je nun, mein Buch nimmt sie ja mit, dachte ich. Mein Buch, das auch von dieser Gegend handelt, den höheren Welten der Anthros gleich hier umme Ecke. Immerhin.

Ich drehte mir eine Zigarette, begann zu pfeifen, tippte den Takt mit dem rechten Zeh und schnippte mit den Fingern. Ha! dachte ich. Zu Hause hab kann ich wenigstens die Neue von New Order hören: We're like crystal, we break easy, I'm a poor man, if you leave me, I'm applauded, then forgotten, it was summer, now it's autumn ... wie das paßt. Endlich haben die mal wieder eine gute Single, eine ihrer besten. Keep it coming, keep it coming, keep it coming, keep it coming, sang ich vor mich hin, und ich sang es auch noch, als ich schon längst im Zug nach Bremen saß. Keep it coming, keep it coming, keep it coming, keep it coming ...

Auch in Bremen war das Wetter inzwischen herbstlich geworden, das Licht hatte sich verändert; doch es waren milde Tage, würzig duftend nach Laub, und ich hörte Crystal von New Order und sang aus Leibeskräften mit. Keep it coming, keep it coming, keep it - halt! jetzt ruft mal deine E-Mails ab, mahnte ich mich und begann zu stöhnen. Elf E-Mails von derselben Person, alle vom 11. September, eine Anfrage nach der andern. Mürrisch begann ich zu arbeiten, bis tief in den Nachmittag hinein, jajaja, ich werd das machen, ich werd den Krempel lektorieren, doch was wird aus meinem eigenen Buch? dachte ich. Jetzt hab ich wieder keinen Verleger, und die Zeit drängt. Es muß endlich offiziell erscheinen, nicht bloß als popeliger Privatdruck. Die Zeit ist reif für dieses Buch, verdammt. Ich tippte vor mich hin, bis mich der Hunger aus dem Hause trieb, ich mich auf mein Fahrrad setzte und durchs Viertel fuhr, an diesem Tag, der sich von keinem anderen unterschied. Ich fuhr zu PLUS neben der Schauburg, kaufte das Allernötigste, setzte mich wieder aufs Rad und fuhr singend durch die Horner Straße. I like to be in America, sang ich und hörte im Geiste die böse Version von The Nice. Wieso fällt mir das jetzt gerade ein? dachte ich. Na egal. Die Scheibe mußt du auch mal wieder hören. Gut, daß der prollige Tabakladen an der Ecke um diese Zeit noch geöffnet hat.

Ich bog ab nach rechts, in die Humboldtstraße, schloß mein Fahrrad ab und betrat den muffigen Laden. Gegenüber dem Tresen lief, wie immer, der kleine Fernsehapparat. Es war gegen halb acht,
und im Regionalmagazin Buten & Binnen war nichts zu sehen als Schutt & Rauch. Was'n da los? dachte ich. Brennt das Siemens-Hochhaus am Bahnhof? Aber dann hätt ich ja wohl die Feuerwehr hören müssen. Na egal. Ich wandte mich dem Mann am Tresen zu. "Was'n da los?" fragte ich.
"Attentat in New York", sagte er.
"Wie bitte?" fragte ich verwirrt, noch immer das Stück von The Nice im Kopf, den Kommentar zum Krieg in Vietnam. "Geschieht denen recht", hörte ich mich sagen.
Der Ladeninhaber, ein alter Knacki, dachte ich immer, blitzte mich böse an. "Neenee, 50.000 Tote! Das iss ernst!"
"Waaas?" rief ich, sah wieder auf den Bildschirm, begann allmählich zu begreifen, was geschehen war, you shock me to the core, you shock me to the core, und bekam eine Gänsehaut. "Das gibt Krieg!" rief ich, kaufte meinen Tabak und stürzte auf die Straße. "Habt ihr schon gehört?" rief ich zwei Passanten zu. "Attentat in New York!"
Die beiden sahen mich stirnrunzelnd an.
"Ein Attentat aufs World Trade Center!"
Die spinnt doch, sagten ihre Blicke. "Na und?" achselzuckte einer, und beide gingen in den Laden, vorbei an mir und meinem Fahrrad.
Ihr werd't euch wundern, dachte ich. Das gibt Krieg. Die Welt zerbricht. Nur schnell nach Hause, bei den Nachbarn klingeln.
"Wir kucken schon die ganze Zeit", sagten Gundula und Michel. "Das sollen irgendwelche arabischen Terroristen gewesen sein."
"Gottverdammte Idioten", schnaubte ich und spürte, wie die Bilder zu wirken begannen, diese Flugzeuge, diese Türme, diese Trümmer, dieses Feuer, dieser Rauch, wieder und wieder. "Das gibt Krieg."

We're like crystal, we break easy ... it was summer, now it's autumn ... die Welt zerbricht, dachte ich wieder und wieder, während ich die Bilder sah, diese Flugzeuge, diese Türme, diese Trümmer, dieses Feuer, diesen Rauch, alles so perfekt wie in einem Hollywoodfilm, aber das hier war Hollywood live, The Clash of the Civilizations, Äktschn pur, Babylon's Burning, es ist wahr, es ist wirklich wahr, 's ist Krieg, 's Krieg, 's leider Krieg, dachte ich, und wir saßen zu dritt vor der Glotze, "Das gibt Krieg!" sagten wir, und siehe, es gab Krieg.

________

Soundtrack New Order, Crystal (mp3,
Hella (Gast) - 10. Sep, 15:45

Und hier ist

endlich ein Link zum 9/11-Soundtrack von New Order:
http://tadeshina.castpost.com/210312.html.Keep it comin'!

nochmal (und jetz aber) (Gast) - 10. Sep, 15:46

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